Ostroher Spätlese

Die aufgehende Sonne lockte Blaue Feder aus dem Bett. Schnell zog sie sich etwas Warmes an und setzte sich das erste Mal eine leichte Mütze auf. Nach einem heftigen Herbststurm, waren die vergangenen Tage wieder sehr schön, wenn auch schon empfindlich kalt.

Die Sonne war die Tage in den Skorpion weitergewandert. Die Nachbarn fingen schon an, ihr Haus für ‚Halloween‘ zu schmücken – ‚Halloween‘, die ‚Heilige Nacht‘.

Die Mondin war noch am Himmel zu sehen. Der Mondin im Oktober wird mancherorts Weinmond genannt. Sie hatte auch vom Eibenmond gelesen und fragte sich, ob die Eiben nicht besser in den November passten? Vielleicht hatte die Mondin dieser Zeit noch mehr Namen?

Die Mondin hatte ihren Wein bereits ausgeschüttet und Blaue Feder hatte mal wieder recht spät ein paar Weintrauben geerntet. Obwohl sie wenig Sonne gesehen hatte, waren die Beeren zuckersüß. An den meisten Beeren labten sich bereits Fliegen und Wespen. Auch anderes Kleingetier fand sich in den Beeren: Baby-Schnecken, Asseln und Ohrwürmer.

Die MiniSchnecken flüsterten ihr zu: ‚Walk in Beauty! Lass Dir Zeit und betrachte in Ruhe die Schönheit, die Dich umgibt!‘

Die Asseln sangen: ‚Vergiß nicht, Du bist auch nur ein Mensch, wie alle anderen!‘ – Was sollte das denn heißen?

Der Ohrwurm, der sie ein bisschen an einen Skorpion erinnerte, sprach: ‚Lausche weiter Deinem Herzen und Du wirst schon rausbekommen, was es bedeutet!‘

Aus den Trauben zauberte sich Blaue Feder einen leckeren Weintraubensaft, die Ostroher Spätlese.

Es zog sie an den Großen Mondsee. Hier konnte sie in Ruhe den Sonnenaufgang genießen. Es war schon ordentlich was los im Moor. Sie traf nach langer Zeit den Winterläufer wieder mit seinen Hunden. ‚Lange nicht gesehen!‚, lachte er sie aus bärtigem Gesicht an und sie lachte zurück. Drei Amazonen klapperten mit ihren Laufstöcken und unterhielten sich angeregt. Still war es an diesem Morgen nicht, aber Blaue Feder tauchte einfach in die lebendige Stille.

Viele Vogelschwärme zogen über den Großen Mondsee – Gänse, schwarze Kormorane und Tauben flogen in den Sonnenaufgang.

Blaue Feder tauchte in die Spiegelungen auf den See. Es sah aus wie ein Tor, das sich zu einer anderen Welt öffnete.

Es ging jetzt in die dunkle Jahreszeit. Blaue Feder freute sich irgendwie auf die Dunkelheit. Im Urlaub hatten sie eine Nachtwanderung im Darßer Wald gemacht. Es brauchte seine Zeit, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten und jeder hatte seine Herausforderungen mit der Dunkelheit. Sie begegneten ihren Ängsten, aber eben auch den Glühwürmchen und vielem mehr. Das war eine spannende Erfahrung. Grad hatten sie ein Haus im Serrahner Wald für das kommende Jahr gebucht. Sie wollten im kommenden Jahr diesen alten Buchenwald erkunden. In der Anzeige stand, dass um 22 Uhr die Laternen gelöscht werden und es ab September dann stockenduster war. Diese Aussicht gefiel ihr irgendwie. Was würden wir an Strom sparen, würden in der Nacht nur die Sternen leuchten.

Meistens sind wir eher auf das Licht ausgerichtet, aber wird nicht gerade im dunklen Schoß der Mutter das Neue geboren? War die Dunkelheit nicht schon lange vor der Schöpfung da? Ist aus der heiligen Dunkelheit nicht alles hervorgegangen? Gehen viele Samen nicht in der Schwärze des Erdbodens auf? Warum war die Dunkelheit mit soviel Furcht besetzt? – Viele Fragen umwebten die Dunkelheit und vielleicht würde sie in der dunklen Zeit ein paar Antworten finden.

Wir nähern uns dem Fest Samhain. Blaue Feder würde es zum Neumond feiern, wenn die Nacht am dunkelsten war. Es heißt, in dieser Zeit öffnen sich die Tore zur Anderswelt.

Der Sonnenhirsch tritt seine Reise in die Unterwelt, um dort wiedergeboren zu werden. Die lange Nacht des Jahres bricht herein, jene dunkle Jahreshälfte, in der die Erde schläft und der Winter, in Gestalt der alten weisen Frau über das Land wacht. Das Aufgehen der Plejaden, der Wintersterne, läutet diese Zeit ein. Etwa Mitte November bis Mitte März können wir die Sieben Schwestern am Nachthimmel sehen. Viele Völker feiern mit dem Aufgang der Plejaden, ihr Neujahrsfest.

Samhain ist ein Fest der Ahnen. Es liegt im Jahreskreis dem Beltanefest gegenüber. Blaue Feder webte schon wenige zarte Fäden in das neue Jahr. Der Serrahner Wald rief sie und ein Ort mit dem schönen Namen ‚Goldenbaum‘. Auch hatte sie auf ihrem Weg ganz unvermittelt schwarze Schiefersteine gefunden und sich daraufhin für einen Bildungsurlaub im Schiefergebirge angemeldet zum Thema ‚Natur und Kunst‘. So setzte sie schon vorsichtig ein paar Spielsteine in das neue Feld mit ein bisschen Vorfreude. Vielleicht wollten sie die Schiefersteine auch an das Seminar am kommenden Wochenende mit Cambra Skadé erinnern, zur ‚Herbstweisen‘. Dafür wollte sie noch ihren Malplatz herrichten. Vielleicht sah sie ein paar vertraute Gesichter wieder. Ihr Herz freute sich.

Meistens endeten um diese Zeit herum ihre Geschichten, die sie im Jahreskreis erzählte. Die dunkle Schwellenzeit nahm ihren Anfang und in Blaue Feder wurde der Impuls in die Stille zu tauchen immer größer.

Im Traum hatte sie wohl eine Ahnin besucht, bei ihr in der guten Stube gesessen, bei einer weisen Alten auf einem gemütlichen Sofa, an einem Tisch mit Spitzendeckchen und blauem Geschirr. Die Alte stellte nachhaltige Batterien oder Akkus her. Es war vielleicht nicht verkehrt eine Ahnin zu kennen, die sich auf das Herstellen nachhaltiger Batterien verstand. Blaue Feder hatte seit einiger Zeit das Gefühl ihre Akkus waren ziemlich leer und so fragte sie: ‚Wie kann ich meine Akkus wieder aufladen?

‚Tauche in die Stille und Deine Akkus laden sich wieder auf.‘

Ihr schien die Alte eine Heilerin zu sein und sie fragte weiter, wie sie heilen würde.

‚Allein aus der Kraft des Herzens. Es ist ein innerer Weg, auf dem Du wandelst. Alles wandelt sich in Deinem Herzen.‘

Die Alte schenkte ihr noch einen kleinen goldenen Samen für das neue Jahr. Blaue Feder erwachte, bevor sie sich bei ihr bedanken konnte.

Am Großen Mondsee lachte sie die aufgehende Sonne an, während sich die Mondin in einem A-Horn-Baum zur Ruhe bettete.

Grad, als wieder diese Frage in ihr auftauchte, wie es wohl weitergehen würde, entdeckte sie einen Teebeutel in den Zweigen eines Busches. Wer hatte sich denn hier in der Wildnis einen Tee gekocht?

Teetrinken und abwarten‚, war dann wohl die Antwort auf ihre Frage.

Und als sich die Frage in ihr formte, welchen Tee sie denn trinken könne, fand sie auch das Etikett am Boden liegen. Sie hatte von der Salomonsiegelwurzel drei Tassen an drei Tagen getrunken und hatte dann das Gefühl, es würde reichen. Manchmal ist eine Medzin sehr intensiv, da brauchte es nicht viel und doch hatte die Wurzel einen starken Impuls gesetzt.

Kaum hatte sie den Teebeutel gefunden, stand sie schon vor den Brennnesseln und auch die Taubnesseln lachten sie an. Sie nahm sich jeweils ein paar Stengel mit.

Ihr ging der Eibenmond nach und sie überlegte, wo überall Eiben in ihrer Nähe wuchsen. Sie wuchsen im Geheimen Garten und auf dem Grundstück, wo einst das Geisterhaus gestanden hatte. Auch beim ‚Halloween-Haus‘ der Nachbarn wuchsen einige Eiben.

Im Wort Eibe lässt sich das Wort ‚Ewig‚ finden. Oft begegnen wir den Eiben auf Friedhöfen und assoziieren den Tod mit ihnen. Es ist auch so ziemlich alles an ihr giftig, bis auf den roten, süßen Mantel der Scheinfrüchte, der wiederum giftige Kerne umhüllt. Sie erinnerte sich noch, als sie mit der Kräuterfrau eine Baumwanderung machten und sie aufgefordert waren, den roten Mantel der Scheinfrüchte zu probieren, aber den Kern auszuspucken. Das war schon ziemlich unheimlich. Nur fünf Kerne können zum Tod führen. Insofern kann uns dieser Baum tatsächlich in die Ewigkeit führen. Vielleicht gewährt uns die immergrüne Eibenfrau aber auch Einblicke in eine andere Ewigkeit – wer weiß, wer weiß.

Stirbt eine Eibe, wächst in ihrer Mitte ein neuer Baum heran. Das ist schon sehr einmalig und so können Eiben stein-alt werden. Damit sind sie ein schönes Sinnbild für den Tod, wie auch für die Wiedergeburt. Blaue Feder hatte die Tage von einem Phönix geträumt, der auch aus seiner Asche wieder aufersteht.

Da stand sie nun bei der Eibe und hatte das Gefühl, ihr zog die Eibenfrau die Socken aus. Sie kam in ‚Null,Nichts‘ runter. Vor ihr stand sie da, wie nackt und hatte keine Ausreden mehr. Nichts konnte sie mehr schönreden. Das war sehr erleichternd und sie tauchte mit ihr in eine wohltuende Zeit der Ruhe und Regeneration. Sie fühlte sich wie ein Same, umgeben von fürsorglicher Dunkelheit. Sie musste nichts mehr tun, nur in Ruhe abwarten, Tee trinken und träumen.

Nun war es irgendwie rund – rund wie der Regenbogen, den sie vor ein paar Tage nach einem heftigen Sturm gesehen hatte. Zwischen Regen und Sonne, zwischen Licht und Dunkel, zog er seinen farbigen Bogen über das Land, das sie so sehr liebte – wie ein ewiges Verspechen.

Überall sprossen nun die Fliegenpilze aus dem Boden. Vielleicht hatten ihre Ahnen früher mit Hilfe der Pilze in die Anderswelt geschaut. Blaue Feder würde es nicht ausprobieren. Ihr langte es, eine Weile in ihre Gegenwart zu tauchen.

Bei den Fliegenpilzen unter den Linden fand sie einen kleinen Samen. Einen Samen, wie ihn ihr die Alte im Traum geschenkt hatte. Sie erinnerte sich und nahm ihn mit einem Lächeln mit.

Sie war mit den Bäumen durch das Jahr gewandert. Sie wusste nun recht gut, wo welche Bäume in Ostrohe und in der Umgebung zu finden waren. Ein Netz der Freundschaft hatte sich gewoben. Die Ostroher Beliebung war um eine Runde reicher.

‚Ayla‘, ihre Dorfeiche hatte sich schon ihr Herbstgewand angezogen. Blaue Feder setzte sich eine Weile zu ihr. Da saßen sie, die beiden Alten. In ihrer Hand spürte sie den kleinen Samen – ein kleiner Same für das kommende Jahr.

Blaue Feder verabschiedet sich hier mal für eine Weile. Sie taucht jetzt mehr und mehr in die Stille – ihre Akkus wieder aufladen.

– Lasst es Euch gut gehen!

4 Kommentare zu „Ostroher Spätlese

  1. So schöne Beschreibungen äußerer und innerer Umunsrums!
    Es gibt eventuell noch mehr Menschen, die sich im Teebeutelweitwurf üben. Ich dachte, ich hätte es für meinen Enkel, der das so gerne ausübt, erfunden 😉
    Gruß von Sonja

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    1. Liebe Sonja, wer weiß, vielleicht hatte Dein Enkel einen besonders weiten Wurf bis ins Ostroher Moor. Kannst ihm sagen, die Blaue Federr hätte seinen Teebeutel gefunden. Liebe Grüße, Susanne

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