Wildemoor

Am Morgen wachte sie auf und das Wildemoor rief sie. Sie hatte die Woche viel am Computer gesessen. Der Nacken war verspannt und ihr war nach Bewegung. Eine Sonnenblume lachte sie auf dem Hof an.

Eigentlich machte sie gerade Sommerpause, aber es war ihr eine liebe Gewohnheit am Frei-tag, das Wasser fließen zu lassen.

Die Arbeitswoche hatte sie weniger anstrengend empfunden und sie war mit einem guten Gefühl heimgefahren. Als beim Einkaufen die Kassiererin von ihrem Hochzeitstag erzählte, viel es ihr wie Schuppen von Augen, dass ihr Hochzeitstag auch bevorstand. Sie machten kein großes Aufhebens davon – und sie fragte sich, warum eigentlich nicht, waren doch schöne Erinnerungen mit diesem Tag verbunden. Meistens fuhren sie ins Burger Fährhaus, wo sie zur Hochzeit mit ihren Freunden gefeiert hatten. Es gab jedes Jahr ein kleines Ritual. Sie fuhren mit der Burger Fähre über den Nord-Ostseekanal und küssten sich in der Mitte. Blaue Feder liebte diese kleinen Rituale.

Sie hatte überlegt, womit sie Brauner Bär und sich noch eine Freude bereiten konnte und hatte begonnen ihr Jahresbuch vom vergangenen Jahr zu gestalten. Sie durchwanderte noch einmal den gemeinsamen Winter, das Frühjahr und den Sommer und schwelgte in Erinnerungen. Jetzt freute sie sich auf den gemeinsamen Herbst.

Der Himmel war etwas verhangen und es war windstill. Nachdem sie ausgiebig mit Taiga gekuschelt hatte, machte sie sich auf den Weg. Während Taiga die Unterwelt erforschte, schaute sie selbst kurz in ihren Garten zu ihren Tomaten. Die Chili wurden reif und sie hatte schon ein leckeres scharfes Apfel-Chutney eingekocht, hatte sie auch schon Äpfel geerntet. Das Chutney schmeckte lecker zu Kartoffelpuffer. Die süßen gelben Tomaten naschte sie einfach vom Strauch weg. Die roten brauchten noch etwas. Auch die Hagebutten leuchteten ihr rot entgegen.

Die Tomaten bei der Nachbarin waren schon viel weiter – ja, und? Vermutlich hatte die Nachbarin ihre Tomaten auch nicht aus Samen vorgezogen.

Das Dorf wurde wieder herausgeputzt für die Dritte Dorf-Olympiade. Bei der ersten hatte sie beim Gummistiefel-Weitwerfen mitgemacht oder war es das Ernte-Dank-Fest gewesen.

Sie wusste es nicht mehr, aber es war lustig. Bei der Töpferin bewunderte sie eine neue Figurine und bei der Holzbildhauerin stand schon der Tee auf dem Herd. Sie würden sich am 8. September zum Künstler-Stammtisch treffen, soviel stand bereits fest.

Ob in ihrem Garten oder im Moor, lachten sie überall die Schafgarben an. Sie fielen ihr derzeit besonders auf, breiteten sie ihren Teppich dort aus, wo sich Altes verabschiedete. Im Dorf gab es ein Grundstück, wo ein Haus abgerissen worden war. Dort blühte ein schöner Schafgarbenteppich. Die alte Klärgrube war auch nicht mehr in Betrieb und die Schafgarben hatten sich hier flächendeckend ausgebreitet. Sie ging zum Großen Mondsee, wo sie einst die Schafgarbe gemalt hatte.

Wasser des Lebens bin ich, hatte sie ihr zugeraunt.

Blaue Feder spürte eine Sehnsucht in sich, nach diesem Analogen, sich irgendwo hinsetzen und in Ruhe malen. Bald würden sie eine Woche auf eine Insel fahren und richtig Urlaub machen. Sie wollte ihr Skizzenbuch mitnehmen.

Es zog sie zu einem Ort im Moor, den sie im Winter ausgiebig erkundet hatte. Es war ein stiller Ort, ein wildes Stück Land, das wachsen durfte, wie es wollte. Überall im Moor hatte der Angelverein die Wege gemäht. Das Wildemoor war im Privatbesitz und war davon ausgenommen. Hier wuchsen die Brombeeren, wie sie wollten und nun konnte sich Blaue Feder satt essen. Wildemoor war überseht mit Brombeerbüschen. Meist waren ihre Beine nach einem Besuch dieses Ortes total zerkratz, aber irgendwie waren sie momentan sowieso überseht mit Blauen Flecken, war sie in letzter Zeit viel angeeckt.

Sie hatte noch nicht erzählt, dass dieses Stück Land, dem freien Autor gehörte, der den liebevollen Bericht über Brauner Bär und sie für die Dithmarscher Landeszeitung verfasst hatte. Als sie Heiner Egge im Interview erzählte, dass sie oft auf seinem Stuhl saß, hatte er Gänsehaut bekommen und festgestellt, dass sie dann ja schon miteinander verbunden waren, bevor sie sich kennenlernten. Ja, das waren sie, so wie alles miteinander verbunden war. Manchmal wusste sie nicht wie, aber sie wusste, alles war auf seine Weise miteinander verwoben, wie ein Spinnennetz. Das Stück Land war beim Amt offiziell als ‚Wildemoor‚ eingetragen.

Blaue Feder sah, er oder jemand anderes war dagewesen und hatte ein paar Bäume entfernt. Eine Fläche sah aus, als hätte dort eine Decke gelegen oder ein Zelt gestanden. Blaue Feder hatte nun die offizielle Erlaubnis auf diesem wilden Land zu Sein. Als ob, es sie vorher geschert hatte. Brauner Bär pflegte in solchen Momenten zu sagen: Mach mal die Augen zu, dann weißt Du, was Dir gehört.

Sie setzte sich auf den Stuhl und schloss die Augen. Der Wind frischte auf und sie hatte das Gefühl, sie war nicht allein. Sie spürte diese Urkraft um sich herum. Dieses kleine wilde Land war wie ein kleiner Drache. In den vielen wilden Brombeeren fand diese Urkraft ihren Ausdruck. Sie spürte diese lebendige Kraft in sich.

Freunde hatten Brauner Bär von einer Textil-Künstlerin erzählt, die auf der Biennale den Polnischen Pavillon bespielt hatte. Er hatte ihr den Link geschickt.

https://www.berliner-kuenstlerprogramm.de/de/artist/malgorzata-mirga-tas/

Blaue Feder war Feuer und Flamme, als sie die Werke dieser Künstlerin betrachtete. Die ganze Zeit hatte sie nach etwas Neuem gesucht und nun fing es an, in ihr zu rattern. Die Künstlerin hatte einen Roma-Hintergrund und ihre Werke erzählten ihre Geschichte. Blaue Feder war als Kind immer die ‚Zigeunerin‘ genannt worden. Vielleicht, weil sie als Baby mit schwarzem Haar zur Welt gekommen war. Das schwarze Haar hatte sich verloren, aber irgendwie war sie immer anders gewesen und gehörte nicht so richtig dazu. Sie hatte es nie als abwertend empfunden, hatte sie sich selbst fremd gefühlt in ihrer Familie und war auch an anderen Orten, wie in der Schule, mehr eine Außenseiterin. Mittlerweile galt die Bezeichnung ‚Zigeuner‘ als diskriminierend.

Sie spürte diesem wilden Kind in ihr nach. Sie hatte sich einst eine Puppe genäht und sie Esmeralda getauft. Der Name Esmeralda tauchte in der Undinen-Zeit wieder auf. Er verband sie mit dieser Wurzel. Sie wusste nicht, ob es Roma und Sinti in ihrer Ahnenlinie gegeben hatte, aber irgend etwas brachte es in ihr in Schwingung. Vielleicht war es mehr das Thema der Außenseiterin, das anklang. Doch fühlte sie sich heute noch so?

Mit der Künstlerin und Aktivistin Malgorzata Mirga-Tas vertrat zum ersten Mal in der über 120-jährigen Geschichte der Biennale eine Roma-Künstlerin den polnischen Pavillon auf der Kunst Biennale. Das Projekt Re-enchanting the World war ein Versuch, den Platz der Roma-Gemeinschaft in der europäischen Kunstgeschichte zu finden. Mit ihrer Arbeit lenkt die Künstlerin die Aufmerksamkeit auf die Rolle, die Frauen in der Geschichte der Roma gespielt haben.

Zur Ausstellung gab es einen Katalog.

Als sie die Augen öffnete, lag eine Wurzel nicht weit von ihr. Eine Weide war rausgerissen und ihre Wurzel lachte Blaue Feder an.

Nach ihrer Meditation fühlte sie sich belebt. Sie ging naschend von Brombeerbusch zu Brombeerbusch zurück, bis sie plötzlich vor einem riesengroßen Blaubeer-Busch stehen blieb.

Blaue Feder liebte Blaubeeren über alles. Ihr Mund und ihre Hände färbten sich blau. Auf dem Heimweg hatte sie wieder dieses Grinsen auf dem Gesicht, das wohlig-freudig-verschmitzte Grinsen eines Sommermädchens mit Blaubeermund.

Daheim schaute sie sich die Wurzel näher an. Sie sah darin eine wild-bewegte Alte. Die hat ja gar keinen Kopf, dachte sie. Da entdeckte sie ein Gesicht im Schoßraum dieser Figur, die sie an Funbording Su erinnerte. Es fühlte sich so stimmig an. Sie wusste nicht, wohin sie die Reise mit der neuen Wurzel führte. Sie musste es auch nicht wissen. Es eröffnete sich ein neues Forschungsfeld. Sie merkte, wie innere Bilder in ihr hochstiegen. Sie würde schauen, ob es ein Strohfeuer war oder ob es für eine neue Forschungsreise in das kommende Jahr tragen würde. Sie bestellte sich den Katalog zur Ausstellung. In Berlin gab es aktuell eine Ausstellung im Brücke-Museum von Malgorzata Mirga-Tas. Es reizte sie, ihre Werke im Original zu sehen. Ihr Werk für die Biennale war monumental. Was immer Blaue Feder spinnen würde, es würde vermutlich in der Ausgestaltung etwas kleiner – klein aber fein!

Am Nachmittag kam das Dörpsblatt und dann war ihr klar, warum sie an diesem Tag zum Wildemoor gerufen worden war. Der Artikel aus der Dithmarscher Landeszeitung war prominent noch einmal auf zwei Seiten im Dörpsblatt abgedruckt und sie freute sich.

Ostroher Dörpsblatt

Klicke, um auf Druckversion_Ostroher_Doerpsblatt_3._Ausgabe-2023-08-14-vhe.pdf zuzugreifen

8 Kommentare zu „Wildemoor

  1. Liebe Susanne, kennst Du den Link ROMARCHIVE ?Eine Fundgrube oder ein Füllhorn…Inspiriert von „Wildemoor“…grüßt herzlichSigrid  – vom kleinen Fluss 

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    1. Liebe Sigrid,
      vielen Dank für den Link. Auch bei uns in der Forschungsstelle gibt es in der ‚Werkstatt der Erinnerung‘ noch einiges für mich zu erforschen. Liebe Grüße an den kleinen Fluss, Susanne

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  2. taiga hat eine sehr schöne färbung!

    ich sehe auch das gesicht im schoß der wurzel tänzerin – gleichzeitig war mein erster impuls, als ich die wurzel sah: eine tänzerin mit vogelkopf…

    dankeschön fürs teilen der schönen geschichte.
    aljoscha
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    1. Lieber Aljoscha, eine Freundin sagte vor Kurzem dreifarbige Katzen seien Glückskatzen. Wir sind auf jeden Fall sehr glücklich, dass sie bei uns lebt. Den Vogelkopf hatte ich nicht gesehen, auch spannend. Regengrüße aus dem Norden, Susanne

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