‚Old Meg‘

Es war eine ver-rückte Woche. Seit ihre Wohnung in der Großen Stad aufgelöst war, fuhr die Nordbahn nur noch sporadisch, weil das alte marode Schienennetz erneuert wurde. Eine Nacht träumte Blaue Feder von einer wildgewordenen Viehherde und tatsächlich waren am Morgen Kühe auf den Gleisen und hatten die Nordbahn gestoppt. Blaue Feder frühstückte auf dem Bahnhof in Heide mit vielen anderen gestrandeten Pendlern. Vorsorglich übernachtete sie bei der Schwester von Brauner Bär in der Großen Stadt. Sie lebte in einer kleinen Wohnung. Es erinnerte sie an ihre Oma, die auch in bescheidenen Verhältnissen gelebt hatte und bei der sie sich immer sehr aufgehoben gefühlt hatte. So ging es ihr auch mit der Schwägerin. Sie war willkommen und spürte es. In diesen Zeiten war es immer schön, wenn man sich an einem Feuer wärmen konnte. Die Schwägerin war so ein Leuchtfeuer, das Wärme ausstrahlte und sie konnte die Karten legen, wie keine andere. Doch das wussten wohl nur ihre engeren Freunde. Blaue Feder hatte es auch einmal gelernt, aber alles wieder vergessen.

Sie träumte die Woche auch von einem jungen Heiler, der ihren Energiehaushalt wieder ins Gleichgewicht brachte. Sie sah, wie er an ihren Chakren am Gange war und hoffte, er würde auch Brauner Bär besuchen. Seine Stimmung war recht gemischt und Blaue Feder musste aufpassen, ihn nicht wie ein rohes Ei zu behandeln. Nach der Krankenhauswoche war ihnen nach einem kleinen Ausflug und so besuchten sie ihren Ententeich im grünen Herzen Dithmarschen, den Mühlenteich. Hier waren viele Enten versammelt und sie rieten ihnen liebevoll mit den eigenen Schwächen einen Umgang zu finden.

Es begann zu regnen und so wanderten sie die Westerau entlang, wo die Bäume sie schützten. Blaue Feder fiel besonders der immergrüne Efeu auf. Er erfüllte sie mit Hoffnung. Er besaß keinen aufrechten Stamm, was ihm erlaubte zu ranken, zu klettern und zu umfließen. Er schützte andere Bäume und bedeckte die Wunden der Erde. Er diente der Erde in Bescheidenheit und erinnerte Blaue Feder daran, nicht die Schätze im Außen zu suchen und welch ein Glück es war, dem inneren Plan zu folgen.

Die Westerau schlängelte sich wie eine Schlange durch das Tal. Gleich zu Beginn des Weges hatte jemand begonnen, sich eine Hütte zu bauen. Wer hier wohl wohnen wollte?

Blaue Feder ging die Roma-Königin nicht aus dem Kopf. Einst hatte sie ein Gedicht von John Keats gelesen über Old Meg.

Old Meg

Old Meg she was a Gipsy,
And liv’d upon the Moors:
Her bed it was the brown heath turf,
And her house was out of doors.

Her apples were swart blackberries,
Her currants pods o‘ broom;
Her wine was dew of the wild whit rose,
Her book a churchyard tomb.

Her Brothers were the craggy hills,
Her Sisters larchen trees-
Alone with her great family
She liv’d as she did please.

No breakfast had she many a morn,
No dinner many a noon,
And ’stead of supper she would stare
Full hard against the Moon.

But every morn of woodbine fresh
She made her garlanding,
And every night the dark glen Yew
She wove, and she would sing.

And with her fingers old and brown
She plaited Mats o‘ Rushes,
And gave them to the Cottagers
She met among the Bushes.

Old Meg was brave as Margaret Queen
And tall as Amazon:
An old red blanket cloak she wore;
A chip hat had she on.
God rest her aged bones somewhere-
She died full long agone!

Dieses Gedicht schrieb John Keats 1818 für seine Schwester Fanny während einer Wanderung durch die Landschaften Schottlands. Als Vorlage diente ihm die Figur der Roma Meg Merillies aus einem Buch von Sir Walter Scott ‚Guy Mannering oder der Sternendeuter‘. In jenem Roman wird die geheimnisvolle Meg als freundliche weise Frau und Heilerin dargestellt, die ihre jenseitigen Sinne nutzt, um den Menschen um sie herum zu helfen.

Keats‘ Meg war ebenso Teil der Landschaft wie der Welt der Menschen. Die Verse betonen die Härte des Lebens, das sie führte, und ihre Armut, aber auch ihre Freiheit. Die Zeile ‚Old Meg was brave as Margaret Queen‚, bezogen sich wohl auf die schottische Königin Margaret, riefen aber auch das Bild einer anderen Margaret hervor, einer anderen Königin, die ebenfalls wunderbar zu den Beschreibungen des Gedichtes passte, nämlich Margaret Finch, die Königin der Zigeuner.

Über das Leben und den Hintergrund von Margaret Finch war nur wenig bekannt. Zur Königin ernannt zu werden, zeigte, wie wichtig und respektiert sie in ihrem Clan gewesen sein muss. Ihr wurde nachgesagt, dass sie die Gabe der Intuition in ungewöhnlichem Maße besaß, was ihr den weitreichenden als Wahrsagerin einbrachte. So kamen nicht nur Roma zu ihr, sondern Menschen von nah und fern, aus allen Klassen, um bei ihr Rat zu suchen. Die erste Hälfte ihres Lebens verbrachte sie vermutlich reisend als Nomadin durch Großbritannien. Erst als sie älter wurde, ließ sie sich dauerhaft in Norwood nieder. Eine große Gruppe von Roma reiste damals durch Großbritannien, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und kehrte in den Wintermonaten nach London und in die Umgebung zurück. Die Beliebtheit von Norwood beruhte wohl auf seinem abgelegenen und ländlichen Charakter. Dort lebten sie auf einem Hügel, der gemeinhin als ‚Beggar’s Hill‘ bekannt war.

Einem Bericht zufolge lebte Margaret in einer konischen Hütte aus Ästen am Fuß eines alten Baumes am unteren Ende des ‚Gypsy Hill‘. Sie lebte mit einem Terrier zusammen und rauchte Pfeife. Das erinnerte Baue Feder doch sehr an ihre Alte vom Weißdorn, mit der sie symbolisch immer eine Pfeife paffte.

Trotz ihrer harten Lebensbedingungen verstarb Magaret Finch erst im hohen Alter von 108 Jahren. Es heißt, dass sich eine große Menschenmenge versammelt hatte, um sie auf ihrer letzten Reise zu begleiten.

Blaue Feder fand unter einem Baum ein altes Wespennest mit seinen fünfeckigen Waben und sie dachte an den von einer Königin regierten Wespenstaat. Wespen sind Strahlensucher, das heißt bestimmte Erdstrahlen sind für sie lebensnotwendig und so suchen sie sich Orte der Kraft für ihr Nest. Es erinnerte sie daran, wie wichtig es war, sich mit den Ahnen- und Urkräften zu verbinden.

Den Roma wurde auch nachgesagt, sie würden auf den Schlangenlinien wandern. Wunderte es sie, dass sich Margaret Finch in der Nähe von London niederließ? Einige Roma kannten auch noch die alten Schlangen-Tänze. War Magarete nicht von jeher eine, die mit den Drachen tanzt?

Im Wald fanden sich noch Steinpilze und ein Stock lag auf einer Bank. Blaue Feder nahm den Stock, der nach nichts aussah und nicht wissend, was sie damit sollte. Dann entdeckte sie das Loch hoch oben in einer Fichte. Das Harz floss den Stamm herunter. Mit dem Stock konnte sie ein kleinen Klumpen Fichtenharz abkratzen. Eine gute Grundlage für eine Salbe.

In Old Meg hatte Blaue Feder ihre erste Ahnin gefunden, die sie auf ihrem Ahnentuch verewigen würde. Sie würde den Reigen der Ahninnen eröffnen. Mit ihr kamen die Gaben des tiefschauenden Sehens und Wahrsagens in ihr Feld.

Lusisa Francia hatte sie auf eine Dokumentarfilm-Reihe ‚From the Goddess‘ von Laura Hirch aufmerksam gemacht. Hier versammelten sich die Groß-Mütter der Matriarchatsforschung und erzählten von den Zeiten der Göttinnen und Königinnen, die eine friedliche Zeit war – ohne Kriege.

2 Kommentare zu „‚Old Meg‘

  1. … danke mein liebe Susanne, es bereitet mir immer wieder Freude, mich auf deine Geschichten einzulassen, zwischen den Zeilen zu fühlen und von deinem großen Wissen zu lernen… hab einen geschmeidigen Tag blaue Feder 💝✨😘

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