Den Wind einfangen

In der Nacht fegte ein Sturm über das Land und nahm alles mit sich, was nicht mehr festgehalten wurde. Blaue Feder wusste nicht, ob sie es geträumt hatte oder ob wirklich ein Sturm über das Land gezogen war. Doch roch die Luft am morgen frisch und wie gereinigt. Es zog sie hinaus, den Duft des frischen Windes einzufangen. Im Flur erfreute sie sich an den Schattenspielen der Sommersonne, sah die drei Madeln auf eine Schüssel mit Eiern schauen.

Konnte sie den Wind einfangen? Sie konnte ihn wahrnehmen, auf ihrer Haut spüren, riechen und tief einatmen, den Wind, der so viele Veränderungen mit sich brachte. Als Erste traf sie Lisa Wippsteert auf der Straße, die immer wieder für ein gesundes Gleichgewicht plädierte. Sie zeigte ihr, wie sie mit ihrem Federschwanz alles fein ausbalancierte. In ihrem Sein verband sie die Gegensätze – schwarz und weiß.

Es war die Zeit der neuen Mondin im Zwilling. Blaue Feder holte ihr Tagebuch hervor und las ihren Eintrag zur 6. Rauhnacht. Zu Beginn hatte sie sich die Frage gestellt:

Wie kann ich es mir leichter machen?

Als Antwort hatte sie geschrieben: In dem ich den Job loslasse.

Sie musste lachen. Es fühlte sich an, als wäre der Sturm auch durch sie hindurchgefegt und sie hatte tatsächlich ihren Job losgelassen. Ihr Arbeitgeber hatte ihrem Vorschlag zugestimmt. Das Gespräch lief ohne Drama und Diskussion ab. Ihre Mondin im Skorpion vermisste ein wenig die Dramatik. Loslassen hört sich so einfach an, doch wer ihre Geschichten gelesen hatte, hatte das Auf und Ab der Wellen mitbekommen. Immer wieder wünschte sie sich mehr Leichtigkeit. Konnte sie mit dieser Leichtigkeit auch gehen? Am Morgen des Gespräches hatte sie einen schönen Traum von Wien, der ihr das Gefühl gab, etwas Neues würde kommen, etwas, das sie vielleicht noch nicht erahnte.

Es war so eine Sache mit den Impulsen der Seele, die oft leicht und liebevoll daher kamen. Wie sie diese dann umgesetzt bekam, war eine andere Frage. Nun war es also amtlich und neben tausend anderen Gefühlen, fühlte sie sich wie befreit. Irgendwo in einer Ecke ihres Seins fühlte sie eine große Dankbarkeit. Sie bekam die gewünschte Abfindung, die ihr das Leben tatsächlich einfacher machen würde und sie nicht unter Druck setzte, sich gleich wieder einen neuen Job suchen zu müssen. So richtig fassen, konnte sie es noch nicht. Es war vielleicht wie mit dem Wind.

Das Dorf war noch geschmückt vom Ringreiten. Der Wind spielte mit den Wimpeln. Eine junge Amazone war zur Königin gekürt worden und hatte die langjährige alte Königin abgelöst. So würde es ihr auch ergehen. Es würde vermutlich eine jüngere Amazone kommen, die vielleicht etwas stress-resilienter war, als sie, mit ihren 60 Jahren. Sie würde ihr Zepter, ein paar gesammelte Erfahrungen weitergeben und dann zu neuen Ufern aufbrechen.

Die vergangene Zeit hatte Blaue Feder die Sehnsuchtswald-Reihe von Patricia Koelle gelesen. Der Wald war für die Schriftstellerin wie ein Buch mit unzähligen Geschichten. Ihre Geschichte war auch die des Windes. Vier Freude hatten sich in jungen Jahren eine Auszeit im Darßer Wald genommen und zum Abschied eine Windharfe auf einer Kiefer gebaut, die den Wind aus allen Richtungen einfing und als Töne wiedergab. Diese war über die Jahre verstummt und mit jeder Geschichte, die neu erzählt wurde, wurde auch die Windharfe zu neuem Leben erweckt. Jedes Buch war einem jener Freunde, einer Windrichtung und einem Baum gewidmet. Junge Menschen begaben sich inspiriert durch Kunstwerke der vier Freunde auf die Suche ihrer Vergangenheit, ihrem eigenen Platz im Leben und zu sich selbst. Die Suchenden waren alle halb so alt wie Blaue Feder. Trotzdem fühlte sie sich angesprochen. Sie genoss es diese Geschichten zu lesen, die so sanft dahinflossen und fühlte sich in ihrem eigenen Prozess unterstützt.

Die Rosen beim kleinen Blauen Haus lachten sie an und erinnerten sie an die Fülle der Rosen, die sie in Holm gesehen hatte. Ihre Holmer Rosen-Geschichte würde sie vielleicht noch einmal gesondert erzählen. Es war die Zeit der Rosenblüte und es animierte Blaue Feder wieder ihre Rosen-Meditation zu praktizieren, die sie bei einem Sufi-Lehrer kennengelernt hatte. Es war sehr einfach – sie stellte sich einfach eine Rose in ihrem Herzen vor und schritt Blütenblatt für Blütenblatt langsam, Schritt für Schritt, in das Zentrum ihres Herzen. Bei jedem Schritt schaute und lauschte sie, ob ein Blütenblatt den Raum öffnete für eine Erfahrung oder eine Information. Wer mag konnte sich auch eine Zwiebel vorstellen, eine andere Lieblingsblüte oder einen Kohlkopf. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt.

Eine Schwalbe breitete ihre Flügel auf einer Mauer aus. Es nisteten nun doch keine drei Schwalbenpaare auf dem Schwalbenhof. Tatsächlich hatte das zweite Schwalbenpaar ihr Nest fertig gebaut und wurden dann von Spatzen vertrieben. Mit den Nesträubern gestaltete sich das Zusammenleben nicht so einfach. Die Schwalben gaben aber nicht auf und bauten sich ein neues Nest. Blaue Feder entschied sich, nach den Trauerseeschwalben zu schauen, ob sie den Sturm gut überstanden hatten.

Der Winterläufer fuhr mit dem Auto an ihr vorbei, blieb stehen und kurbelte das Fenster runter. Er fragte, was sie an diesem Tag fotografieren wollte. Den Wind, antworte Blaue Feder. Er lachte sie an und sie wünschten sich einen schönen Tag. Am Holzhaus des Winterläufers, dort wo normalerweise Fahnen aus allen Ländern der Welt hingen, wehte diesmal die Fahne Dithmarschens und es fühlte sich an, wie nach Hause kommen.

Wenn Blaue Feder durch die Natur ging, dann spürte sie die Leichtigkeit. Manchmal ging sie, wie an diesem Tag, zerknirscht los, atmete die frische Luft ein, richtete sich auf, traf ihre Freunde, die Tiere, die Pflanzen und hinterher fühlte sie sich selbst wieder rund und schön – wie ausgebeult.

Eine Weile stand sie an der BroklandSau und betrachtet die Muster, die Blätter, Entengrütze und Halme im Wasser formten. Eine Teichmummel war erblüht. Am Ende fließen alle Flüsse ins Meer und wir ins All-Eins-Sein zurück, kam ihr in den Sinn.

Am Erlensee tanzten die Fingerhüte mit dem Wind. Sie folgte mit ihren Blicken einer Trauerseeschwalbe, die ihre Kreise zog und vermutlich Mücken jagte. Plötzlich sah sie einen glänzenden blauen Lichtschein über den See fliegen. Ein Eisvogel gab sich die Ehre. Am Morgen hatte sie sich das goldene Ei auf ihrem Kingfisher-Secret-Bild angeschaut, das gerade über ihrem Altar hing.

Der sechste Monat des Jahres war angebrochen und es ging auf die Sommersonnenwende zu. Die ersten sechs Monate steigen wir den Berg hinauf, feiern oben angekommen unser Bergfest, um dann auf der anderen Seite wieder hinunterzusurfen. Der Eisvogel erinnerte sie an die Halkyonischen Tage im Winter rund um die Wintersonnenwende herum. Für Blaue Feder gab es diese Halkyonischen Tage auch im Sommer rund um die Sommersonnenwende. Es war eine schöne Erinnerung sich auf diese wunderbaren Tage einzustimmen und vielleicht noch einmal zu schauen, wie sie den Berg hinauf gekommen war und wie sie weitergehen wollte. Sie hatte ihren eigenen Weg mit der Job-Geschichte gefunden und es fühlte sich für sie stimmig an.

Ihre Schwestern, die Gänse, kamen geflogen und riefen: Komm flieg mit uns! In dem Moment brach der Himmel auf und die Sonne schien durch ein Wolkenloch und eine Gans setzte zum Flug an, flog etwas langsamer dem Schwarm hinterher. Sie brauchte etwas Zeit um an Höhe zu gewinnen. Im Schwarm flog es sich dann leichter.

Eine Schlange tanzte im Wasser und es sah aus als würde sie fliegen. Mit Leichtigkeit verband sie Himmel und Erde.

Der Pfeifenstrauch war erblüht, der auch falscher Jasmin oder Bauern-Jasmin genannt wurde. Seine Blüten verströmten einen unvergleichlich-süßen Duft, der eben an Jasmin erinnert.

Blaue Feder erfreute sich an den vielen Nestern der Trauerseeschwalben, die trotz des Sturmes besetzt waren. Sie setzte sich noch ein Weile an den Großen Mondsee unter die großen Pappeln, deren Blätter im Wind sangen und sah dem Wind zu, wie er mit dem Wasser spielte. Sie spürte ein Reh hinter sich im Gebüsch. Ab und an steckte es den Kopf heraus, zu sehen, ob die Luft rein war.

Auf dem Heimweg tauchte sie beim Rosenhof in der Duft der Heckrosen – auch die Seerosen öffneten langsam ihre Blüten. Eine hand-voll Blüten nahm sie mit für einen Tee.

Im Garten der Holz-Künstlerin bestaunte sie deren neuen Holz-Stelen. Besonders das Schiff mit den drei Segeln gefiel ihr. ‚Windsbraut‚ kam ihr als Name in den Sinn und dem kleinen Klabautermann im Hintergrund gefiel es.

Die Töpferin aus dem Haus nebenan winkte ihr zu und sie unterhielten sich eine Weile. Bist Du auch langsam unterwegs – Knie oder Hüften? Blaue Feder erzählte ihre Job-Geschichte. – Ja, mit 60 konnte sie den Stress auch nicht mehr ab. Es tat immer gut, sich mit Freunden auszutauschen. Ihre Namensvetterin erzählte von dem Sturm in der Nacht, der das Schiff umgeweht hatte. Blaue Feder hatte sich den Sturm also nicht nur erträumt.

Daheim brühte sie sich einen Rosen-Tee auf, zündete sich eine Kerze an, schaute in ihr Rund aus den Rauhnächten und Schritt für Schritt tauchte sie mit den Rosenblättern in ihr Herz und in ihr Sein.

Als sie nach ihrer Meditation wieder von ihrem Gänseflug landete, schaute sie sich noch einmal ihr Jahresrad an. Da kam ihr die Idee, 6 Tage vor der Sommersonnenwende noch einmal den gemachten Erfahrungen nachzuspüren und mit jedem Tag einen gegangenen Monat liebevoll für sich abzuschließen. Am 21.06. würde sie in den Tag der Wunder tauchen. Er stand in einem engen Zusammenhang mit ihrem 13. Rund und dem Haupthema, dass sich durch das Jahr zog. Indem Blaue Feder ihre Geschichten las, bekam sie eine Gefühl, wofür ihr Katzenbild stand.

Nach der Sommersonnenwende würde sie in den folgenden 6 Tagen den Zeichen und Hinweisen für die kommenden Monate und Schritte auf ihrem Weg lauschen. So würde sie ihre Sommer-Rauhnächte in Stille begehen und fand, es war ein schöner Plan.

Brauner Bär kam am Nachmittag zerknirscht vom Sport wieder heim. Er hatte beim Ausparken eine Eisenbügel übersehen und die beiden Beifahrertüren waren zerbeult. Ob die sich auch wieder ausbeulten, wenn sie das Auto in die Natur stellten? Blaue Feder tröstete ihn, war es nur ein Blechschaden. Irgendwoher würden sie schon gebrauchte Türen bekommen und wenn ihr Wagen mit dem Namen Picasso ein paar bunte Türen bekam, war es auch nicht weiter schlimm – war er eben ein Künstler-Mobil. Blaue Feder fand die Idee sogar reizvoll, dem Wagen ein paar bunte Türen zu verpassen.

9 Kommentare zu „Den Wind einfangen

  1. liebe susanne!

    wie „immer“: schöne geschichten und feine fotos!

    angenehmen sonntag für euch auf dem schwalbenhof!

    herzliche grüße! aljoscha

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  2. danke für die nicht nur wunderbare, wissensreiche, sondern auch nahe Geschichte. Sie mich wiedermal berührte. Glückwunsch zu deiner Entscheidung 🫶bis nächsten Samstag 😘💝

    LG Anja

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    1. Moin Du Liebe,
      nun fühlt es sich schon etwas leichter an. Ich freue mich auf Dich und auf die NordArt. Einen guten Start in die Woche und bis Samstag. Küßchen Susanne 🥰

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