Das Birkenmädchen

Einst wurde die Geschichte vom Birkenmädchen überall erzählt, dort, wo Birken wachsen – von der sibirischen Tundra bis in die Länder des hohen Nordens, in den Ländern der feuchten Moore wie in den trockenen Heidelandschaften.

Einst sang ein jeder ihr Lied. Ihre Geschichte wurde von Generation zu Generation weitererzählt. Dann zogen sich die Geschichtenerzähler in die Wälder zurück und ihre Geschichten schienen verloren. Doch, gingen sie nicht wirklich verloren. Sie hielten nur eine Art Winterschlaf. Das Land bewahrte alle Geschichten auf, für alle, die kommen würden um zu Lauschen. Vielleicht erzählte das Land neue Geschichten, der Zeit entsprechend. Denn das Land wandelte sich, wie sich die Menschen wandeln und so wandeln sich auch die Geschichten.

So freuten sich die Birken, als Blaue Feder sie besuchte. Sie lauschte in die Stille. Sie wusste nicht, ob sie alles richtig verstanden hatte. Doch würde sie, so gut sie konnte, erzählen, was ihr die Birken erzählten an jenem kalten Wintertag. Die Birken schenkten ihr einen Birkenstab, an dem konnte sie ihre Geschichte aufhängen.

Es war wohl ein Erzähl-Stab – ein Geschichten-Stab. Kurz erinnerte sich Blaue Feder an die Erzählstäbe, die sie im Sommer auf der Insel am Strand gefunden hatte. Sie hatte sie mitgenommen. Nun schenkten ihr die Bäume Stäbe oder Stecken. Der Holunder hatte ihr schon einen geschenkt, die Birke und auch die Weide.

Der Sturm hatte eine Birke niedergestreckt. Sie schenkte Blaue Feder etwas Rinde und Birkenreisig für ihre Geschichte. So webte Blaue Feder ihr Birkenbild. Nahm sie den Birkenstock in die Hand und lauschte, hörte sie zarte Worte. Stück für Stück entspann sich ihr die Geschichte. Nahm sie den Stab, fing es in ihr an zu Tanzen. Es war wohl auch ein Tanz-Stab. Blaue Feder merkte, wie etwas in ihr in Bewegung kam. Sie merkte auch, wo sich ihr Körper nicht mehr so gut bewegen ließ, wo es knarzte und sogar weh tat. Doch will sie nicht von ihren Wehwehchen erzählen, sondern die Geschichte vom Birkenmädchen.

Einst lebte ein Mädchen in den Birkenwäldern. Ihr Antlitz war strahlend schön wie die Birken selbst. Sie war kein Kind mehr und doch auch keine Frau. Sie war mehr wie ein Geist, ein Birkengeist vielleicht und leicht wie ein Feder. Ihr Gesicht erinnerte an die Rinde der Birken. Ihr Kleid war duftig leicht, wie ein Frühlingsblumenwiese. Hier und dort waren schwarze Flecken eingewebt, die Dich mit weisen Augen anschauten. Sie tanzte mehr, als das sie ging. Sie schwebte mehr, als das sie lief.

Hast Du das Birkenmädchen schon einmal gesehen? Sie zeigt sich jenen, die ein offenes Herz haben. Jenen, die wie sie, gerne spielen und jenen, die Kind geblieben oder wieder Kind geworden waren. Sie zeigt sich jenen, die mutig und sanft ihren Weg gehen wie die Rehe. Sie zeigt sich jenen, die schlau und gewitzt waren, wie die Füchsin. Sie zeigt sich jenen, die weise und umsichtig waren wie die Eule.

Schmolz das Eis und legte die Winterkönigin ihren Stab unter den Holunder, entsprang das Birkenmädchen einer Birke, in der sie wohnte. Nun begann ihre Zeit, die Zeit der jungfräulichen Göttin. Noch hingen ein paar Schneesterne in ihren Haaren. Doch auch die würden bald geschmolzen sein.

So, oder so ähnlich konnte die Geschichte beginnen. Vielleicht war es eine neue Geschichte, die die Birken erzählten, vielleicht war sie auch uralt wie Mutter Erde selbst.

Erscheint das Birkenmädchen, beginnt etwas Neues. Es gibt ein Bäume-Alphabet, das Baum-Ogham. Es beginnt mit dem B, dem Beth der Birke. Beth steht auch für die Bethen. Die drei Ewigen, die den Faden weben. Im Keltischen heißt „bet“ immerwährend oder ewig. Die Bethen sind daher ‚die drei Ewigen‘. Sie sind der Inbegriff des immerwährenden, ewigen, unbesiegbaren Lebens. Auch die Birke ist unbesiegbar. Sie ist eine Pionierin unter den Bäumen. Sie ist die erste, die auf kargen, mageren Böden und unter widrigen Bedingungen das Land wiederbesiedelt und fruchtbar macht.

Einst tanzte ein Mädchen durch den Birkenwald. Ihr Kleid schimmerte weiß mit einem sanften Perlmuttglanz. Sie nannten sie die Glänzende oder die Leuchtende. Manche nannten sie Saga, jene die von den Alten, den Ahnen erzählte. Die Kelten nannten sie Brigid, die weiße Göttin, die Tänzerin, die silberhell und spielerisch neue Visionen webt. In Sibirien wird sie Udeshi-Burchan genannt, die Göttin der Tore.

Ging Blaue Feder zu dem Kleinen Birkensee, dann musste sie immer durch ein kleines Birkentor gehen. Den Moment mochte sie gerne. Meist wartete schon ein kleiner Wächter am Tor, eine Maus, eine Kröte oder eine Schlange. Blaue Feder fragte dann, ob sie eintreten durfte. Kam ein ‚Ja‘, ging sie achtsam hindurch auf die andere Seite und auch achtsam wieder zurück. Am Kleinen Birkensee hatte sie schon einige Abenteuer erlebt.

Den sibirischen Schamanen war die Birke ihr Lebensbaum. Sie schnitzten ihre Masken aus ihrem Holz. Sie gab ihnen Schutz und war ihre Seelenführerin. Die Birke selbst war wie eine Lichtleiter zum Himmel und zurück. So wie das Birkenmädchen viele Namen trägt, trägt auch die Birke viele Namen. Sie wird Nierenbaum, Besenbaum, Maibaum und Frühlingsbaum genannt.

Meist erwachte das Birkenmädchen zusammen mit den Schneeglöckchen aus dem Winterschlaf. Sie liebte den Glockenklang der zarten weißen Blumen. Sie liebte alle weißen Blumen, weil ihr Kleid selbst weiß war wie ein Schneeglöckchen. Wie sie, liebte sie es zu tanzen. Sie war der Tanz selbst. Federleicht, beschwingt tanzte sie durch den Birkenwald und weckte alle ihre Birken auf. Sie wirbelte durch den Birkenwald immer mit der Nase im Wind und die Birken tanzten mit ihr, leise, auf ihre Weise.

Dann fing das Birkenwasser an, emporzusteigen. Hast Du schon einmal Dein Ohr im Frühling an einen Birkenstamm gelegt und gelauscht? Mach es mal und lausche. Dann kannst Du das Wasser fließen hören. Dann kommt Leben in die Bude.

Blaue Feder trank gerade selbst Birkenwasser und entschlackte ihren Körper der Winterpfunde. Die Birke bringt die Wasser zum Fließen, entfettet und reinigt alle Körpersäfte. Ein feiner Birkenblätter-Tee hilft Dir im Frühjahr wieder in Schwung zu kommen. Mit einem Birkenreisig-Besen tanzte sie durchs Haus und holte alle alten Spinnenweben aus den Ecken. Entsorgte, was überflüssig war. Die Birke half ihr ein Zuviel auszugleichen. Ein Schuss Birkenwasser in Wischwasser und alles fängt wieder an zu glänzten. Die Birken luden Blaue Feder ein, bewusst zu atmen. Auch einmal bewusst auszuatmen und loszulassen. Oft lud sie sich zuviel auf. Die Birke lud sie ein, auch einmal loszulassen und achtsam mit sich selbst umzugehen. Sie machte sie offen, für notwendige Veränderungen und schenkte ihr Vertrauen in den ureigenen Weg.

Kam der Frühling raschelten zartgrüne Blätter in ihren Haaren. Warst Du schon einmal im Frühling in einem Birkenwald? Das zarte Grün umfängt Dich. Freude und Leichtigkeit füllt Dein Herz. Lange und kurze Kätzchen kuscheln sich an ihre Zweige und laden ein zum Streicheln. Das Birkenmädchen klemmte sich gerne welche hinter ihren Ohren. Das waren ihre Ohrringe. Wie ihre Schwestern, die Hasel und die Erle, ist die Birke einhäusig. So finden sich männliche und weibliche Blüten auf einem Baum. So war es nicht verwunderlich, dass die Verliebten zum Maientanz meist eine Birke nahmen, um sie herum zu tanzen mit bunten Bändern. Der Maienbaum, die Verbindung von Himmel und Erde, lädt ein zur Heiligen Hochzeit.

Im Sommer blühen die Gräser und Blumen im Birkenwald und das Birkenmädchen wird zum Sommermädchen und tanzt ausgelassen mit den Sonnenstrahlen. Da staunt sogar die Füchsin.

Blaue Feder hatte ein Gefühl von Heimat, wenn sie in einem Birkenwald war. Da war diese Weite, die sie spürte, als wäre sie in den Weiten der Sibirischen Tundra. Ihr Herz öffnete sich dann ganz leicht. Es zog sie immer wieder zu den Birken. Als junge Frau besuchte sie eine Birke in der Nordheide. Dort saß sie an den Baum gelehnt, zeichnet und malte. Oft kam sie traurig und ging gestärkt und fröhlich wieder heim. Dieser Birkenbaum war schon besonders, seine Zweige waren in alle Richtungen wie zu Zöpfen geflochten.

Im Herbst leuchten die Blätter im Haar des Birkenmädchen golden, wie die Sonne, bevor sie zur Erde fallen. Noch einmal strahlen sie, was das Zeug hält. Zuweilen häuten sich die Birken wie ein Schlange. Ist ihre Haut zu eng geworden, dann platzt sie auf und ein neue Haut kommt zum Vorschein.

Blaue Feder hatte auch im Tal der BroklandSau eine Lieblingsbirke. Sie ist nicht aufrecht gewachsen, sondern schlängelt sich wie eine Schlange über den Boden. Gerne sitzt sie am Abend auf ihrem Stamm wie auf einem Drachen und schaut wie die Abendlichter den Wald rot färben.

Im Herbst schnitzt sich das Birkenmädchen einen Löffel aus Birkenholz und sammelt damit die Samen ein. Sie stromert durch den Wald und lässt hier und dort die geflügelten Samen in den Boden fallen.

Kommt der Winter über das Land, geht sie wieder schlafen. Eine Tür am Fuße einer Birke öffnet sich und das Birkenmädchen verschwindet wie in einer Höhle. Es wird still im Birkenwald. Nun übernimmt Frau Holle das Zepter und hüllt das Land in weißen Schnee, damit es sich erholen konnte.

Manchmal hüpfen im Winter Schwanzmeisen von Ast zu Ast und erinnern Blaue Feder an die Lebendigkeit des Birkenmädchens. Bist Du schon einmal in einen Schwarm Schwanzmeisen geraten? Hast Du schon mal ihre Lebendigkeit gespürt. Vielleicht war das ein Gruß vom Birkenmädchen. Schau Dir mal die Schwanzmeisen genau an. Leuchtet ihr Gefieder nicht wie eine Birkenrinde?

Die Birken schweigen und träumen ihren Wintertraum Sie träumen von dem Birkenmädchen, das mit wehenden Haaren durch den Wald hüpft, immer mit der Nase in den Wind. Sie träumen, wie das Birkenmädchen das Licht, die Freude und den Tanz ins Leben zurückbringen wird.

14 Kommentare zu „Das Birkenmädchen

  1. Zauberhafte Bilder und eine schöne Geschichte! Du hast das Schöne der Birken erfaßt und uns noch einmal so wunderbar beschrieben. Ich liebe sie auch. Und ja, in eine Gruppe Schwanzmeisen bin ich schon hineingeraten 🙂 Sie sind allerliebst. Das ihr Gefieder zu den Birken paßt, ist mir vorher noch nicht aufgefallen, es stimmt aber. So ein ganzes Birkenwäldchen gibt es hier eher selten, aber wenn, freue ich mich besonders. LG Almuth

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    1. Liebe Almuth, die Birken sind hier sehr präsent, wohne ich direkt an einem großen Moor – auch ihre Schwestern, die Haseln und die Erlen und natürliche die Weiden. Welche Bäume fallen denn bei Dir gleich ins Auge? – Oh je, die Weidenfrau ruft schon seit Tagen… Ich glaube, ich muss mal raus. Da arbeitet schon wieder eine Idee in meinem Gebälk. Danke für Deine lieben Worte und einen schönen Tag, Susanne

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      1. Dazu kann ich gerade gar nichts sagen, weil sie hier bei mir meine Lieblingswildnis in der Stadt gerade abholzen. Bin heute völlig fertig und antworte später mal dazu. Moor und Birken ist wunderbar, du Glückliche 🙂 LG Almuth

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      2. Ach manno, das tut mir leid. Ich kenne das Thema nur zu gut. Vor zwei Jahren wurde mein kleiner wilder Wald auch niedergemetzelt. Ich bin dann mit mit dem älteren Herrn, der den Wald gekauft hat, ins Gespräch gekommen und konnte einige alte Bäume retten. Es tut mir auch in der Seele weh, wenn hier die Knicks komplett runtergeschnitten werden. Meist sind es die Bäume selbst, die mich trösten, besonders die Weiden, die dann sagen: Wir schlagen schon wieder aus! Die ersten Jahre bin zum Berserker geworden. Mittlerweile versuche ich in der Liebe zu bleiben. Ich finde die Idee von Ulrike gut, auf Deinen Blog aufmerksam zu machen und zu versuchen mit den Planern zu sprechen. Ich schreibe auch meine Geschichten und versuche Bücher daraus zu machen, um aufmerksam zu machen wie schön die Natur und wie lenbensnotwendig für uns. Ich wünsche Dir erfolgreiche Gespräche. Liebe Grüße,
        Susanne

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      3. Oh je, ja, dann kennst du das Drama ja. Alles war gut so wie es war, aber nein, man kann ja immer noch was „aufwerten“. Der wildeste Teil wurde bereits beseitigt. Ein kleiner Trost für mich ist, daß ein Teil der im Frühling blühenden Schlehen erhalten bleibt. Es ist dann Stadtgrün mit Naherholung und nicht mehr das bißchen Natur in der Stadt, welches ich so geschätzt habe. Du hast Recht, es bleibt uns nur, darauf aufmerksam zu machen, was wir um uns herum haben. Liebe Grüße
        Almuth

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  2. So gern bin ich dir in deinen Zauberwald gefolgt, liebe Susanne! Ja, mir wird auch immer ganz licht und leicht ums Herz, wenn ich durch eine Ansammlung Birken streife. Tatsächlich habe ich noch nie mein Ohr an einen Birkenstamm gelegt und gelauscht. Das hole ich nach! 🙂

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  3. Hallo, ich danke Dir für Deinen Beitrag. Ich habe gerade im Webarchiv eine schöne Geschichte von einer Birkenfrau entdeckt, geschrieben von Lite Fritsche Sie ist hier:
    https://archive.org/details/jbc.bj.uj.edu.pl.NDIGCZAS021304_70412769/page/5/mode/2up

    Der Name „Birke“ ist verwandt mit ahd. peraht „hell“, „glänzend“, und die Rune Berkana ist ihr geweiht. Dies führt auch zur Göttin Perchta, Berchta usw., alias Holda, Frau Holle, und sie bildet eine Einheit mit Tiwaz (Tyr). Es hat auch zu tun mit Bär (Ge-Bär-Mutter), Gebären und der Bahre… Das „Kleine Wurzelbuch“ bietet dazu eine ganze Menge Zusammenhänge:
    https://archive.org/details/kleines-wurzelbuch-kleines-runenbuch-20230512/page/n25/mode/2up?q=Berkana

    Nach Jacob Grimm ist mei = Birkenreis, von daher besteht ein Bezug zum Mai (Weiße Birke = Maie oder Meie), und zu „Mädchen“, meidlin.

    Das „Birkenland“ ist die Prignitz:
    Zitat:
    Zur Zeit der Wendenherrschaft hiess die Prignitz terra Bri oder Prizanorum (s. u. a. Helmold, Chron. Slav. I, 37. 88). Die meisten stellen Brizani und Prignitz sprachlich zusammen (s. vor allem Müschner, Zs. f. Ethnologie 18, 376). Wohl mit Recht. An die Brizani scheinen noch zu erinnern: Groß-, Mittel-, Klein-Breese bei Wittenberge, Breetz bei Lenzen, Bresch bei Putlitz. Alle diese Namen werden zum aslav. breza Birke gestellt. Prignitz also „Das Birkenland“.
    (Siewert, Max: Die niederdeutsche Sprache Berlins von 1300 bis 1500, In: Jahrbuch des Vereins für niederdeutsche Sprachforschung, Norden/Leipzig, Jg. 29, 103, S. 67)

    Ganz liebe Grüße aus dem Wäller Land (Westerwald), Klaus

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    1. Lieber Klaus,
      vielen Dank für Deine spannenden Forschungen zur ‚Birke‘. Mir tat es grad gut, noch einmal in die Leichtigkeit der Birkenwelt zu tauchen. Herzensgrüße, Susanne

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